Agile Dokumentation empfinden viele Technische Redakteure als Zumutung. Warum eigentlich? Agil bedeutet flink, beweglich, gewandt, behänd oder geschäftig – durchweg positive Eigenschaften. Woher kommt also der Unmut? Was steckt hinter dem Begriff „agil“, der sich aus der Softwareentwicklung den Weg in das Projektmanagement technischer Produkte bahnt? Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für die Technische Dokumentation? Deuten sich am Horizont vielleicht auch Vorteile an?
Agile Dokumentation – was ist das eigentlich?
Häufig läuft der agile Entwicklungsprozess nach einem bestimmten Schema ab. Nehmen wir folgendes Beispiel: Der Kunde braucht dauerhaft haltbare Lebensmittel. Die Entwickler erfinden in Zusammenarbeit mit dem Kunden die Konservendose. Dafür nutzen sie die Methode „Scrum“. Ein Team arbeitet eigenverantwortlich an Aufgabenbereichen, um das Produkt nacheinander mit den erforderlichen Merkmalen auszurüsten. Täglich informieren sie sich untereinander über den Fortschritt der Arbeit. In mehreren Teilaufgaben, die als „Sprint“ bezeichnet werden, nehmen die Dose, der Inhalt, die Befüllung, der Verschluss und die Haltbarmachung Gestalt an. Nach jedem Schritt erhält der Kunde Gelegenheit, sich darüber zu äußern, ob er das so haben will. Für die Dokumentation bleibt in der Eile wenig Zeit.
In dem Moment, in dem der Kunde im Begriff ist, die Geduld zu verlieren, fällt den Entwicklern ein, dass zum fertigen Produkt eine Gebrauchsanweisung gehört. Schnell wird der Technische Redakteur hinzugerufen: „Schau mal her, das ist eine Konservendose. Erkläre bitte dem Kunden, wie er unfallfrei an den Inhalt gelangt. Er wartet schon vor der Tür.“ Natürlich ist dieser Prozess etwas überspitzt dargestellt. Fakt ist jedoch: Die agile Dokumentation kommt bislang meist viel zu spät zum Einsatz. Dabei gibt es bereits gute Ansätze, wie es besser laufen kann – etwa aus dem Bereich der Softwareentwicklung .
Agiles Projektmanagement als Basis
Ihren Ursprung hat die agile Dokumentation in der Softwareentwicklung, genauer gesagt im agilen Projektmanagement der Softwareentwicklung. 2001 haben 17 führende Softwareentwickler ein Agiles Manifest formuliert, das die Grundlage für schnelleres Arbeiten bildet. Die Zeitersparnis resultiert aus dem Verzicht auf die detaillierte Planung des Projektes im Vorfeld. Ausgangspunkte für die Arbeit sind locker formulierte Grundanforderungen in Form von User-Storys, die dem Muster folgen: In meiner Rolle als A möchte ich die Aufgabe B erledigen können, um daraus den Nutzen C zu ziehen. Die Entwickler setzen die Forderungen um und fragen den Kunden, ob er damit zufrieden ist und was er außerdem noch braucht. Auf diese Weise entsteht iterativ (Schritt für Schritt) ein exzellentes Produkt.
Schwerpunktverschiebung im Projektmanagement
Die Akteure haben die Schwerpunkte konventioneller Geschäftsabwicklung auf unkonventionelle Art verschoben.
In den Vordergrund getreten sind:
- Individuen und Interaktionen
- funktionierende Software
- Zusammenarbeit mit dem Kunden
- schnelles Reagieren auf Veränderung
Folgende Punkte spielen eher eine Nebenrolle:
- Prozesse und Werkzeuge
- umfassende Dokumentation
- Vertragsverhandlung
- das Befolgen eines Plans
Halten wir fest: Agile Dokumentation ist nicht mehr wie bisher möglich, aber sie ist möglich. Dazu bedarf es nur einer neuen Herangehensweise.
Erfolgsgrundlagen im agilen Projektmanagement
Für den Erfolg der neuen Herangehensweise sorgen zwölf Prinzipien, die im agilen Manifest formuliert sind. Sie beruhen vor allem auf
- dem Ziel, hohe Kundenzufriedenheit zu erreichen
- flexibler Reaktion auf Änderungen während des Projektes
- kurzen Bearbeitungszeiten
- selbstorganisierten Teams aus motivierten Experten mit fachübergreifendem Wissen
- täglicher Zusammenarbeit mit Informationsaustausch von Angesicht zu Angesicht
- regelmäßiger Bewertung und Verbesserung der Effektivität des Teams
Umgesetzt wird das Ganze durch streng definierte Rollen der Mitwirkenden, knallharte Ziel- und Zeitvorgaben sowie dicht aufeinanderfolgende Erfolgskontrollen. Wie die einzelnen Teilziele konkret erreicht werden, liegt im Verantwortungsbereich des Teams.
Agile Dokumentation in der Softwareentwicklung
Die Technische Dokumentation beschreibt die konstruktiven Details sowie die Leistung und die Arbeitsweise von Geräten, Maschinen und technischen Systemen. Daraus leiten sich Betriebsanleitungen und Gebrauchsanweisungen für den Nutzer ab. Stehen die Fakten fest, können die Technischen Redakteure mit der Arbeit beginnen. Werden die Fakten erst im Verlauf des Projektes geschaffen, müssen die Redakteure an der Entwicklung beteiligt werden. Agile Dokumentation bedeutet, den Entwicklungsprozess mit den Augen des zukünftigen Nutzers zu begleiten und dessen Bedürfnisse durchzusetzen.
Bei der Softwareentwicklung ist das verkaufsfähige Produkt beim Test des erarbeiteten Programmpaketes bereits vorhanden. Wenn zu diesem Zeitpunkt Verbesserungsbedarf besteht, lassen sich die erforderlichen Änderungen von einem, der den Überblick hat, verhältnismäßig leicht in das Programm integrieren. Die agile Dokumentation arbeitet die neuen Fakten in die vorhandenen Unterlagen ein. Und das geht natürlich einfacher und schneller, wenn man während der gesamten Zeit am Ball bleibt.
Agile Dokumentation außerhalb der Softwareentwicklung
Im Gegensatz zur Softwareentwicklung müssen technische Systeme nach ihrer Entwicklung erst noch hergestellt werden. Entwicklung und Fertigung laufen getrennt voneinander ab. Die Fertigung braucht eine aussagekräftige Technische Dokumentation, um überhaupt arbeitsfähig zu sein. Dieser Unterschied zur Softwareentwicklung wirkt sich auf die Agilität technischer Projekte aus. Ein verbesserungswürdiges Programm ist mit wenigen Klicks gelöscht und durch ein neues ersetzt. Versuchen Sie mal, ein verbesserungswürdiges, bereits eingebautes Maschinenteil zu „löschen“.
Trotzdem existieren in der Technik ähnliche Methoden. Zum Beispiel erfolgt im Bauwesen bei Großprojekten häufig eine gleitende Projektierung. Will man etwa einen Flughafen bauen, legt man zunächst nur die Rahmenbedingungen fest. Während die Gebäude, Versorgungseinrichtungen und Verkehrsflächen schrittweise gebaut werden, lassen sich neue Gegebenheiten berücksichtigen, die bei Projektbeginn noch nicht absehbar waren. Das können beispielsweise geänderte rechtliche Vorgaben oder Änderungen der Nutzungsbedingungen sein. Allerdings werden auch hier klare Regeln und motivierte Experten mit fachübergreifendem Wissen benötigt. Sonst ist die durch die kürzere Planungsdauer gewonnene Zeitersparnis schnell aufgebraucht.
Fazit
Agile Dokumentation bedeutet also, den aktuellen Bearbeitungsstand im Blick zu behalten und die Unterlagen laufend anzupassen. Auch wenn die Technische Dokumentation für die Ewigkeit gemacht ist, kann ihre Erstellung flexibel sein. Vorteil und Herausforderung gleichermaßen ist die Einbindung des Technischen Redakteurs in den Entwicklungsprozess. Der Technische Redakteur gewinnt tiefere Einsichten in das Objekt, muss aber viel Zeit investieren. Die Entwickler gewinnen wertvollen Input aus der Sicht des Nutzers. Und im besten Fall gewinnt dadurch das Unternehmen neue zufriedene Nutzer und Kunden.
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